Fluktuation in Kanzleien: Kosten, Ursachen und Lösungen für langfristige Mitarbeiterbindung
- marcowenzke
- 16. Sept.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Sept.
Warum Fluktuation in Kanzleien so problematisch ist
Fluktuation ist für Kanzleien mehr als eine Personalfrage – sie wirkt sich unmittelbar auf Wirtschaftlichkeit, Mandantenbeziehungen und Kultur aus. Während manche Partner:innen Abgänge fast achselzuckend hinnehmen, zeigen Studien klar: Fluktuation ist teuer und vor allem ein Indikator für fehlende Passung, unklare Führung und ungenutzte Entwicklungschancen.
Fakten zur Fluktuation in Anwaltskanzleien
Wechselbereitschaft: Rund 25 % der Associates planen laut JUVE innerhalb von 12 Monaten den Kanzleiwechsel.
Junge Jurist:innen: Laut IBA (2022) nennen über 60 % Work-Life-Balance und mentale Gesundheit als Hauptsorge.
Uppsala-Studie: Jurist:innen achten stärker auf Familienfreundlichkeit, klare Karrierepfade und kulturelle Passung als auf Gehalt.
Führung: Gallup-Studien zeigen, dass 70 % der Unterschiede im Engagement direkt auf die Führung zurückgehen.
Kosten: Laut Center for American Progress liegen die Fluktuationskosten zwischen 20 % und 213 % des Jahresgehalts – bei Associates bis zu 400.000 USD.

Fallbeispiel: „Maria“ – wenn Exzellenz ohne Passung scheitert
„You need the right people with you, not the best people.“ – Jack Ma bringt es auf den Punkt: Es zählt nicht nur die fachliche Exzellenz, sondern vor allem der kulturelle Einklang.
Damit dieser Einklang gelingt, muss eine Kanzlei im gesamten Prozess der Mitarbeitergewinnung ein klares Bewusstsein für ihre eigene Unternehmenskultur haben – und diese bewusst in Auswahlgesprächen, Stellenausschreibungen und im Onboarding-Prozess widerspiegeln. Wer die eigenen Werte, Arbeitsweisen und sozialen Dynamiken nicht transparent macht, riskiert unbemerkt einen Mismatch.
Marias Beispiel zeigt, wie subtil – und folgenreich – so ein Mismatch sein kann:Die Kanzlei legt großen Wert auf persönliche Nähe, gemeinsames Mittagessen und regelmäßigen informellen Austausch. Maria hingegen ist eine exzellente Juristin, deren Stärke in konzentrierter, eigenständiger Arbeit liegt. Sie war von der fachlichen Exzellenz und der starken Marktposition der Kanzlei begeistert – und die Kanzlei konnte ihrer beeindruckenden Vita kaum widerstehen.
Doch schon nach wenigen Monaten treten Spannungen auf:
Maria entwickelt nicht die Performance, die man aufgrund ihrer Abschlüsse erwartet hatte. Intern entsteht der Eindruck, sie habe im Bewerbungsprozess „geblendet“.
Im Team wächst die Annahme, ihre Distanz sei ein Zeichen von Desinteresse oder gar Abneigung.
Diese atmosphärischen Störungen führen zwangsläufig zu schlechteren Ergebnissen – oder zu einer Trennung. Das Ergebnis: Maria hat eine kurze Episode im Lebenslauf, die sie künftigen Arbeitgebern erklären muss. Die Kanzlei steht vor der Aufgabe, erneut Zeit und Geld in die Personalgewinnung zu investieren – und trägt zusätzlich den Produktivitätsverlust der letzten Monate.
Studien wie die Great Place to Work European Workforce Study (2024) zeigen, dass eine klare kulturelle Passung einer der stärksten Prädiktoren für langfristige Mitarbeiterbindung ist. Fehlanpassungen dagegen kosten nicht nur Motivation, sondern wirken sich messbar negativ auf Leistung und Stabilität im Team aus.
Die Lehre:
Passung vor Perfektion ist kein Nebenaspekt, sondern zentral für Bindung.
Personalgewinnung muss ein gegenseitiger Prozess auf Augenhöhe sein.

Warum „Passung vor Perfektion“ auch wirtschaftlich Sinn ergibt
Dass Passung zwischen Mitarbeitenden und Kanzlei mehr ist als ein „weicher Faktor“, belegen zahlreiche wissenschaftliche Studien:
Bessere Leistung & weniger Kündigungsabsicht: Eine Meta-Analyse von Kristof-Brown et al. (2005) über 172 Studien zeigt, dass sowohl Person-Job-Fit als auch Person-Organization-Fit positiv mit Leistung und negativ mit Kündigungsabsicht zusammenhängen. Mitarbeitende, die sich passend erleben, sind produktiver und bleiben länger.
Zufriedenheit & Bindung als Mediatoren: Verquer, Beehr & Wagner (2003) konnten in ihrer Meta-Analyse nachweisen: Je stärker die Passung, desto höher sind Jobzufriedenheit und Commitment – und desto niedriger die Absicht zu kündigen.
Wirtschaftliche Relevanz: höhere Renditen: Der Finanzökonom Alex Edmans (2011, 2014, 2023) zeigt in mehreren internationalen Studien, dass Unternehmen mit hoher Mitarbeiterzufriedenheit – also dort, wo Passung und Kultur ernst genommen werden – Überrenditen von 2–3 % pro Jahr am Kapitalmarkt erzielen.
Innovation & Engagement: Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Person-Job-Fit die Innovationskraft erhöht, weil Mitarbeitende stärker in ihre Rolle involviert sind und zusätzliche Anstrengungen unternehmen, die Kanzlei voranzubringen.
Fluktuation schadet nachweislich der Performance: Eine Meta-Analyse von Park & Shaw (2013) zeigt, dass hohe Fluktuationsraten mit schlechterer Unternehmensperformance (Finanzen, Qualität, Kundenzufriedenheit) zusammenhängen.
Psychologische Erklärung: Warum Passung wirkt
P-E-Fit-Theorie (Person-Environment-Fit): Wenn Fähigkeiten und Werte eines Menschen zur Organisation passen, entstehen weniger Stress, mehr Zufriedenheit und bessere Leistung.
ASA-Modell (Schneider, 1987): Menschen werden von Organisationen angezogen, die zu ihnen passen (Attraction), werden dort ausgewählt (Selection) – und verlassen sie wieder, wenn es nicht passt (Attrition).
Affective Events Theory: Wer kulturell passt, erlebt im Alltag mehr positive Ereignisse und Emotionen – das steigert Engagement und Leistung, während Unzufriedenheit Fluktuation befördert.
Fazit: Passung als zentraler Hebel gegen Fluktuation
Die Datenlage ist eindeutig:
Passende Mitarbeitende leisten mehr, bleiben länger und tragen zur Profitabilität bei.
Fehlende Passung erhöht Fluktuation – und diese wiederum schwächt nachweislich die Performance.
Für Kanzleien bedeutet das: Die Investition in einen geschärften Auswahlprozess, der Passung auf Augenhöhe prüft, ist nicht nur kulturell wertvoll, sondern auch ökonomisch klug.
Fehlendes Problembewusstsein in Kanzleien
In einem Gespräch fragte mich ein Anwalt:„Was ist denn eigentlich so negativ an Fluktuation?“
Diese Haltung zeigt, dass Problembewusstsein fehlt. Fluktuation als positiv darzustellen, bedeutet in Wahrheit:
Man hat zuvor mit den falschen oder nicht passenden Mitarbeitenden gearbeitet.
Führung, Entwicklung und/oder bereits die Personalgewinnung waren nicht gut genug.
Vielleicht hat man gar nicht versucht, durch Feedback oder Coaching Verbesserungen herbeizuführen.
Natürlich entwickeln sich Menschen unterschiedlich oder verändern sich im Laufe der Zeit. Aber es ist die Aufgabe einer verantwortungsbewussten Führungskraft, das frühzeitig zu erkennen und Lösungen zu finden.Wer von einer Kündigung überrascht wird – oder sie sogar als positives Ereignis wahrnimmt – hat in jedem Fall etwas Entscheidendes verpasst.
Darüber hinaus werden oft die oben erläuterten wirtschaftlichen Konsequenzen unterschätzt oder gar übersehen. In sehr kleinen Kanzleien kann die Kündigung eines einzigen Anwalts erhebliche Folgen haben – von Umsatzverlusten bis zu existenziellen Risiken. Nur Partner:innen großer Kanzleien können es sich leisten, darüber hinwegzusehen. Doch selbst dort ist es im Sinne einer gelebten Partnerschaft fragwürdig, Fluktuation achselzuckend hinzunehmen.
In einem anderen Gespräch äußerte ein Anwalt den Wunsch, einen Auswahlprozess zu etablieren, der es ihm ermöglicht, aus „zehn oder mehr Bewerbern“ auszuwählen. Auch diese Haltung zeigt ein begrenztes Verständnis der eigentlichen Problematik: Sie reduziert Personalgewinnung auf eine Quantitätsfrage – anstatt die Qualität der Passung und das Prinzip der Augenhöhe in den Vordergrund zu stellen. Hinter diesem Wunsch verbirgt sich noch immer ein gedankliches Gefälle zwischen Unternehmen und Mitarbeitenden. Auf der einen Seite ein "Bittsteller" und auf der anderen Seite das Unternehmen, was etwas zu bieten hat und wofür man sich jetzt den geeigneten "Angestellten" auswählen möchte. Dieses Bewusstsein ist aber nicht mehr zeitgemäß, wenn es das jemals war.
Ursachen von Fluktuation in Kanzleien
Fehlende Passung von Beginn an – unklare Identität, mangelnde Werte-Transparenz.
Führung und Feedback – mangelnde Anerkennung, keine Entwicklungsgespräche, Führung „nebenbei“.
Unklare Karrierepfade – keine Transparenz zu Entwicklung und Partnerschaft.
Arbeitslast und Work-Life-Balance – Dauerüberlastung, keine klare Abgrenzung.
Strategien zur Reduktion von Fluktuation
Vor der Personalgewinnung
Kanzleiidentität klären: Wofür stehen wir?
Führungsphilosophie ableiten: Wie gehen wir mit Feedback, Fehlern und Entwicklung um?
Im Auswahlprozess
Passung vor Perfektion: Kultur und Erwartungen transparent machen.
Augenhöhe sichern: Gegenseitige Erwartungsklärung.
Entwicklungspfade offenlegen: Karrierewege und Lernkurven klar kommunizieren.
Nach dem Einstieg
Mentoring und Dialoge: Regelmäßige Entwicklungsgespräche.
Führung professionalisieren: Partner:innen in Führungsarbeit qualifizieren.
Kennzahlen nutzen: Frühfluktuation, Employee Net Promoter Score (eNPS), Mandantenkontinuität.
Fazit: Fluktuation als Indikator nutzen
Fluktuation ist kein Schicksal, sondern ein Indikator für Kultur, Führung und Passung. Kanzleien, die ihre Identität klären, ihre Führung professionalisieren und Personalgewinnung als partnerschaftlichen Prozess gestalten, senken nicht nur Fluktuation, sondern sichern ihre Zukunftsfähigkeit.
„You don’t hire for skills, you hire for attitude. You can always teach skills.“
Dieses Zitat wird häufig Herb Kelleher, dem Gründer von Southwest Airlines, zugeschrieben. Es spiegelt die Philosophie wider, Einstellung und Werte vor reine Fachkenntnisse zu stellen – ein Gedanke, der heute aktueller ist denn je. Herb Kelleher, der in weiten Kreisen als Gründer des "Serveant Leadership" gilt, war übrigens auch Rechtsanwalt.

Quellen (Auswahl)
JUVE / azur (2017): Fluktuation in Kanzleien
International Bar Association (2022): Young Lawyers’ Report
Uppsala University – Elin Sundberg (2025): Essays in Labor Economics: Gender, Careers, and Family Decisions
Gallup (2015–2024): State of the Global Workplace / Managers account for 70% of variance in engagement
Soldan Institut (2021): Karrierewege in Kanzleien
StepStone (2023): Arbeitszufriedenheit und Wechselbereitschaft
Center for American Progress (2012/2014): Costs of Employee Turnover
Above the Law (2022) / CBA PracticeLink (2022): Law firm attrition costs
Harvard Law School – Program on Negotiation (2020): Servant Leadership Theory.
https://www.pon.harvard.edu/daily/leadership-skills-daily/servant-leadership-theory/
Neue Dynamiken in Wirtschaftskanzleien –
Soziale Herkunft, Generationen und Führung im Wandel https://static1.squarespace.com/static/658d4a3196d07700482e7c77/t/68c8194619f5b901826b4be3/1757944134883/Kanzleien+Whitepaper+2025.pdf
*1 + *2 Beitragsbild: pixabay, lizenzfrei


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